Anlässlich seines zehnjährigen Jubiläums hat der D21 Kunstraum Leipzig seine ehemaligen künstlerischen Leiter eingeladen, jeweils eine Ausstellung zu kuratieren. Leif Magne Tangen ist Mitbegründer des D21 und war von 2006 bis 2008 für das Ausstellungsprogramm zuständig. Tangen wandte sich mit seiner Anfrage an den Künstler Tilo Schulz. Schulz wird, in seiner ersten Einzelausstellung in Leipzig seit 2008, zwei neue Werkgruppen zeigen. Eine davon ist eine Kooperation mit der Autorin Barbara Köhler – der Peter-Huchel-Preisträgerin 2016. Die Ausstellung werden zwei Veranstaltungen begleiten, deren Fokus auf Sprache, Performanz und Text liegt.
Arealität ist ein veraltetes Wort, das das Wesen oder die Eigenschaft eines Areals (area) bezeichnet. Zufällig eignet sich das Wort auch dazu, ein Fehlen, einen Mangel an Realität oder eine winzig kleine, leichte, schwebende Realität zu unterstellen: diejenige des Abstands […]. (Jean-Luc Nancy)
Die Gründung des Kunstraumes D21 im Jahr 2006 entstand als Reaktion auf die Erkenntnis der zukünftigen Betreiber_innen, dass es in Leipzig, trotz einiger bestehender Initiativen, die dem Ausstellen zeitgenössischer Kunst einen Rahmen boten, an etwas Bestimmtem fehlte. Das D21 wollte ein Kunstraum sein, in dem ein kreativer Prozess stattfinden konnte. Der Philosoph Arne Næss sagte einmal, dass Denken schmerze, weswegen es einfacher und angenehmer sei, dies gar nicht erst zu tun. Im Vokabular der zeitgenössischen Kunst würden wir dazu „Kritisches Denken“ sagen. Für das D21 war es wichtig, Künstler_innen und Kurator_innen die Möglichkeit zu geben, ihre Ideen und Konzepte zu entwickeln. Die meisten meiner eigenen kuratorischen „Werkzeuge“ konnte auch ich während dieser Zeit im D21 etablieren und dort auch zum ersten Mal ausprobieren.
Ich kann nicht sagen, was das D21 heute ist. Die Vergangenheit ist konserviert in Erinnerungen, in Texten, Fotos und Videoaufnahmen. Und von dem, was morgen kommt, sind vorerst nur die Konturen zu erkennen. Seit nunmehr zehn Jahren kann sich das D21 als unabhängiger, ehrenamtlich betriebener Kunstverein behaupten, der von Künstler_innen, Kurator_innen, Architekt_innen und anderen gegründet wurde, und in deren Geist er bis heute fortgeführt wird. Die meisten unabhängigen Kunsträume in Leipzig sind mit der Zeit verschwunden, oder sie haben sich so sehr verändert, dass sie heute nicht mehr als das zu erkennen sind, was sie einmal waren.
Tilo Schulz ist Künstler, Autor und Kurator. Er ist zudem auch Vermittler, weil der Betrachter immer zentraler Teil seiner Arbeiten ist. Manchmal sind seine Projekte kuratorisch, wie z.B. die Ausstellung „squatting. erinnern, vergessen, besetzen“, die Schulz in Kooperation mit Jörg van der Berg in der Temporären Kunsthalle Berlin im Jahr 2010 kuratierte, wo er einen starken Fokus auf den Bewegungsraum der Besucher_innen, sowie die Art und Weise, die Ausstellung zu verstehen und zu lesen, legte. Im Ausstellungstext hieß es dazu: „squatting gestaltet einen spezifischen Ort, der dem Besucher ein bildliches Vokabular zur aktiven Weiterarbeit anbietet.”
Auch bei seiner Beschäftigung mit Zwischenräumen, Grenzen und Zonen steht der Betrachter im Vordergrund. Ein Beispiel dafür stellt seine für die Medienbiennale 1994 erschaffene Arbeit „ohne Titel (Kreidezeichnung)”, die unter anderem aus großen, viereckigen Kreidezeichnungen mit Darstellungen von Plattenbauten in der Nähe Leipzigs bestand. Die Fotodokumentation aus der Vogelperspektive deutet an, dass der ideale Betrachter vom tatsächlichen medialen Betrachter zu unterscheiden war, da von Letzterem zwar Kreidestriche auf der Wiese auszumachen waren, die Arbeit in ihrer Gesamtheit jedoch nur schwer erschlossen werden konnte.
Die ersten Ausstellungen in den Räumlichkeiten des D21 waren Einzelausstellungen, erst später folgten thematische Gruppenausstellungen. Alle drei im Sommer und Herbst 2006 veranstalteten Einzelausstellungen (Lotte Lindner & Till Steinbrenner, Reto Pulfer, Isabelle Cornaro) setzten sich mit Themen der Sprache und des Raumes auseinander. Mit der Einladung von Tilo Schulz für die aktuelle Ausstellung wird diese Reihe nun, mit zehn Jahren Abstand, fortgesetzt.
In einem Gespräch mit der Kunsthistorikerin Dorothea von Hantelmann im Münchner Haus der Kunst erwähnte Schulz 2014, dass er seit über zwanzig Jahren Literatur schreibe. Nur wenige dieser Texte (lyrische Arbeiten, Prosa, szenische Stücke) seien in Publikationen veröffentlicht worden, da sie in der Regel im Rahmen konkreter installativer und skulpturaler Arbeiten entstanden seien. So können als Beispiele angeführt werden: ein lyrischer Text, der für eine Stadtraumarbeit, die im Rahmen der Biennale Manifesta 2 in Luxembourg 1998 entstand (auf der Manifesta2-Webseite zu sehen sowie im Onlinekatalog), die Skulptur „City fear | origami version (module 1–4)”, die in Zusammenarbeit mit der Autorin Sybille Berg 2005 entwickelt wurde, oder die Installation „Schritt, zwischen”, die 2014 im Haus der Kunst in München ausgestellt war, und für die ein speziell dafür geschriebener lyrischer Text im Studio eingesprochen worden ist.
Anfang 2001 gab es endlich einen Kunstbuchladen in Oslo. Die Oslo Kunsthall (die nur von 2000 bis 2002 existierte und nicht mit der heutigen Kunsthall Oslo zu verwechseln ist) hatte Barbara Wien aus Berlin eingeladen, um einen temporären Buchladen zu eröffnen. Dort gab es unter anderem die Erstausgabe von Spector Cut + Paste, einer großartigen Zeitschrift aus Leipzig, in der ein Text von Tilo Schulz abgedruckt war, der mich sehr beeindruckt hat. Ich hatte noch nie von Tilo Schulz gehört und wusste nicht, ob er Künstler, Kurator, Autor, Akademiker oder etwas anderes ist. Auch wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ich 18 Monaten später nach Leipzig umziehen würde.
„BLÄTTERN“ (von Tilo Schulz und Barbara Köhler, 2016) ist eine mehrteilige skulpturale Installation, die aus vier Blättern besteht. Doch die Blätter der Installation entsprechen in ihrer Erscheinung nicht der leichten, dünnen Textur, die der Titel impliziert. Stattdessen sind sie etwa so groß wie eine erwachsene Person und von ihrem Volumen her eher als Platten zu bezeichnen. Trotzdem sind die Blätter fragil, wie sie im Raum stehen, an den Wänden lehnen oder auf dem Fußboden liegen, ohne diesen so richtig zu berühren. In ihrer Anordnung wirken sie ergreifend: verstreut und unbeholfen. Die vier Blätter sind auf der Vorderseite weiß und an den Seiten kann man sehen, wie die weiße Farbe eine andere Farbe (Rot, Gelb, Schwarz, Blau) teilweise überdeckt. Die Spuren der Farbe zeigen an, wie die Blätter lagen, als sie mit dieser übergossen wurden. Auf diese Weise hat sich die Schwerkraft, die den Vorgang regulierte, in die Arbeit eingeschrieben. Auf den Vorderflächen sind kurze Texte eingefräst, die fragmentarisch und andeutend bleiben. Manche enden mit einem Semikolon. Ob es sich dabei um einen Text handelt, der sich über die vier Blätter verteilt, bleibt offen. Die nicht-gebundene Form des Textes und die Platzierung der Blätter im Raum, lässt den Leser_innen die Möglichkeit, durch die Bewegung im Raum individuell den Text zusammenzusetzen und zu deuten.
In der Ausstellung im D21 wird außerdem zum ersten Mal die neue Skulpturengruppe „rags“ gezeigt. Dabei handelt es sind um in gefärbten Beton getauchte Stoffe, die beim Trocknen den Faltenwurf des Aufhängens beibehalten. Somit spielt auch hier die Schwerkraft, gewissermaßen als unkontrollierbarer Faktor, eine Rolle. Die „rags“ hängen einzeln vor der Wand oder auf Ständern, wodurch sie den Bewegungsraum der Besucher_innen beeinflussen und raumdefinierend wirken. Laut Schulz greift die Arbeitsgruppe „rags“ auf unterschiedliche Assoziationen zurück: vom Faltenwurf der Renaissance-Malerei eines Giovanni Bellini, über die Museumspräsentation eines geistlichen Gewandes, bis hin zu einfachen Wischlappen, denen die vergangene Handlung noch eingeschrieben ist.
Zu dem Zeitpunkt, als das D21 gegründet wurde, war die Malerei unter den in Leipzig präsentierten Kunstgattungen überproportional vertreten. Gefühlt gab es so wenige Ausstellungen mit anderen Medien, dass die Meinung zum Medium der Malerei dabei war, sich selbst auszuradieren. Es schien, als gäbe es über diese nichts mehr zu sagen; ein anderer Diskurs war notwendig. Mit dem D21 sollte also ein malereifreier Raum entstehen. In der ersten Einzelausstellung wurde dies thematisiert: Das Künstlerduo Lindner & Steinbrenner hat ihre allererste Malerei für die Ausstellung gemacht. Inzwischen ist mir deutlich bewusst, dass diese Verdrängung der Malerei, die Verdrängung des gesamten künstlerischen Mediums, auf einer falschen Wahrnehmung beruht. Der Annahme nämlich, dass Malerei nur als Malerei diskutiert werden könne, weil die semantische Tiefe der malerischen Formulierung nur durch das Medium selbst möglich sei. Stattdessen muss es jedoch auch möglich sein, dass in der Gattung der Malerei, genau wie in allen anderen Medien, Situationen und Möglichkeiten diskutiert werden können.
Beide Arbeiten („BLÄTTERN“, „rags“) greifen Fragen der Malerei und einfache Handlungen im Produktionsprozess auf: das mehrfache Übergießen der Texttafeln mit Farbe sowie das Tünchen der Textilien. Schulz knüpft hier an seine Malereiinszenierung „Moments before the solution (the world isn’t ready yet) version II“ und „pipes“ aus seiner Ausstellung „Orbit” von 2014 im Kunstverein Hannover an, sowie an die Installation „Schritt, zwischen” aus demselben Jahr im Haus der Kunst in München, und konzentriert sie in den jeweils neuen Skulpturengruppen.
Der Titel der Ausstellung ist in englischer Sprache: „There is no smile in a doll’s face“. Dieser Titel hat mehreren Konnotationen; vom Theater und Film bis hin zum akademischen Bereich, wie Psychologie und Soziologie. Es handelt sich dabei weder um ein sichtbares Zitat, noch um eine Hommage an andere Werke.
Eine Puppe zeigt keine Emotionen und sie lächelt nicht, da ihr aufgemaltes Puppenlächeln etwas rein Formales ist. Trotzdem kann ein Puppengesicht im Betrachter emotionale Regungen hervorrufen, wenn dieser die dort angedeuteten Emotionen emphatisch erkennt.
Doch das ist nicht, was der Titel sagt. Er sagt nur, dass es im Gesicht einer Puppe kein Lächeln gibt.