4.4. – 16.6.24

Prolog zum 10. f/stop — Festival für Fotografie Leipzig

Ausstellung

Radikale Fürsorge

Eröffnung  4.4.2024

Ausstellungsdauer  4.4. – 16.6.24

Führung  7.4.2024

Künstler:innen  Ion Grigorescu, Sanja Iveković, Zbigniew Libera, Martha Rosler, Aykan Safoğlu, Jo Spence & Terry Dennett, Gabriele Stötzer & Künstlerinnengruppe Erfurt

Kuratiert durch  Magdalena Stöger, Leon Hösl

Flucht in die Öffentlichkeit

Die Prolog-Ausstellung zum 10. f/stop — Festival für Fotografie Leipzig im Kunstraum D21 ver­sam­melt vor allem his­to­ri­sche künst­le­ri­sche Praktiken, wel­che die Kamera als Mittel zum unter­schwel­li­gen Widerstand ein­set­zen und das foto­gra­fi­sche und fil­mi­sche Bild zur Erzeugung von Gemeinschaften nut­zen. Die Arbeiten aus den 1970er Jahren bis heu­te stel­len (Gegen-)öffentlichkeiten her und unter­wan­dern Darstellungsnormen. Sie bil­den Referenzpunkte für den f/stop Festival-Parcours, der am 31. Mai 2024 eröff­net wird.

Die Flucht in die Öffentlichkeit ver­wen­de­ten Gabriele Stötzer und die Künstlerinnengruppe Erfurt in den 1980er Jahren als eine künstlerische Strategie, um der kon­ti­nu­ier­li­chen „Zersetzung“ kri­ti­scher Gemeinschaften durch die Stasi ent­ge­gen­zu­tre­ten. Statt sich nur auf die Arbeit im Verborgenen zu beschrän­ken, wur­den Ausstellungen und Veranstaltungen öffent­lich bewor­ben und durchgeführt, staat­li­che Repressionen muss­ten sich dem­nach eben­so ent­tar­nen wie die Kunst selbst. Der Zusammenschluss aus Personen ähn­li­cher Überzeugung war es auch, der aus staat­li­cher Perspektive als Bedrohung emp­fun­den wur­de — eine Bestätigung des Gefühls, dass der Gemeinschaft ein grö­ße­rer Handlungsspielraum zur Verfügung stand als der Summe von Individuen.
In Anlehnung an die Praxis der Künstlerinnengruppe und Gabriele Stötzer setzt die Ausstellung Momente mit­ein­an­der in Beziehung, in denen künstlerische Handlungen durch die Kamera ein eman­zi­pa­to­ri­sches Potential ent­fal­ten und eige­ne Formen von Öffentlichkeit ent­wi­ckeln. Sozialen Interaktionen und Ausdrücken von Solidarität kom­men dabei eine eben­so wich­ti­ge Rolle zu wie dem künstlerischen Resultat selbst,
auch wenn sie zumeist außer­halb der Bilder stattfinden.
Mit einem Fokus auf die 1970er und 1980er Jahre rückt „Flucht in die Öffentlichkeit — Prolog zum Festival“ eine Zeit in den Blick, in der Fotografie und Film eng mit aktio­nis­ti­scher Kunst ver­wo­ben waren, die ver­such­te den mensch­li­chen (und kol­lek­ti­ven) Körper in sei­nem gesell­schaft­li­chen Kontext zu ver­or­ten, mit des­sen Normierungen zu bre­chen, und mit­tels der Kunst Räume für Divergenz zu eröff­nen. In die­sem Zusammenhang blickt die Ausstellung auf poli­ti­sche Machtverhältnisse und Situationen, in denen die­se brüchig werden.

 

Wie demons­triert man Widerstand inner­halb der Inszenierung einer Demonstration? Ion Grigorescu doku­men­tier­te heim­lich eine streng orches­trier­te Wahlversammlung wäh­rend des Ceaușescu-Regimes in Rumänien. Als unfrei­wil­li­ger Teilnehmer der Veranstaltung fing er mit sei­ner auf Hüfthöhe gehal­te­nen Kamera ein, was aus der Außenperspektive nicht zu sehen war: die Kontrolle der Versammlung durch Geheimdienstler sowie mini­ma­le Gesten des Protests, wie umge­dreh­te Schilder oder der Rückzug unter Bäume, um zu pau­sie­ren. Mit der im Verborgenen gehal­te­nen Kamera blick­te Grigorescu hin­ter die öffent­li­che Fassade einer poli­ti­schen Inszenierung und setz­te ihre Ambivalenzen ins Bild.

Sanja Iveković voll­zieht eine fast gegen­läu­fi­ge Bewegung, indem sie in ihrer berühmten Arbeit „Triangle“ eine poli­ti­sche Inszenierung bewusst stört. In ihrer durch Fotografie und Text doku­men­tier­ten Performance wider­setzt sie sich der Anweisung an die Bewohner:innen eines Wohnblocks, wäh­rend der Parade Titos 1979 in Zagreb Fenster geschlos­sen zu hal­ten und Balkone nicht zu betre­ten. In dem Iveković andeu­tet auf dem Balkon zur Lektüre von Tom Bottomores „Elites and Society” zu mas­tur­bie­ren, ver­stößt die Künstlerin nicht nur gegen die offi­zi­el­len Anordnungen, son­dern kon­fron­tiert die vor­ge­schrie­be­ne Uniformität mit einer Ausübung kör­per­li­cher und intel­lek­tu­el­ler Selbstbestimmung.

Wenige Jahre spä­ter begann die bri­ti­sche Fotografin Jo Spence gemein­sam mit ihrem Partner Terry Dennett an ihrer Serie „Remodelling Photo History” zu arbei­ten, in der sie mit den Darstellungsweisen des weib­li­chen Akts in der Fotografie bricht. Die Motive die­ser Serie sind insze­niert und doch näher an der Realität als jene vie­ler männ­li­cher Fotografen. Mit ihrer Serie „Photo Therapy” wen­det sich Spence, in Kollaboration mit Rosy Martin, dem Medium des Familienalbums zu, des­sen Rollen- und Bildtypen sie durch psy­cho­ana­ly­tisch inspi­rier­te Inszenierungen unter­läuft. Auch Martha Rosler greift in ihrer frühen Video arbei­ten „Backyard Economy I+II“ gegen­der­te Rollenbilder auf, in dem sie die Arbeit hin­ter der Schwelle von Haustüren por­trai­tiert. In bedroh­lich ästhe­ti­sier­ter Bildsprache wehen frisch gewa­sche­ne Leintücher im Hinterhof als Zeichen repro­duk­ti­ver Arbeit, die als Grundlage unse­rer Gesellschaft unbe­zahlt und unsicht­bar bleibt. Mit Super‑8 mm auf­ge­nom­men, dem dama­li­gen Amateurfilm-Format schlecht­hin, pro­du­ziert sie das Bild einer pri­va­ten und all­täg­li­chen Szene, das spä­ter zum öffent­li­chen Symbol wird.

Die Künstlerinnengruppe Erfurt such­te eben­falls nach Wegen, um unterdrückende und ste­reo­ty­pe Rollenbilder zu dekon­stru­ie­ren – ihre ers­te gemein­sa­me Arbeit ist nicht zufäl­lig eine fil­mi­sche Übersetzung ihrer „Frauenträume”. Jährliche Filmprojekte bil­den eine Kontinuität in der Zusammenarbeit der Mitglieder. In ihnen insze­nie­ren sich die Künstlerinnen oft mit auf­wän­di­gen und anspie­lungs­rei­chen Kostümen und nut­zen Dächer, Hinterhöfe und die Straße als Hintergrund und Gegenüber ihrer humor­vol­len und gro­tes­ken Szenen. Gabriele Stötzer ist eine trei­ben­de Kraft der Gruppe, die von 1984 bis 1994 aktiv war. In ihren Fotografien stellt sie eben­falls weib­li­chen Ausdruck und Körperlichkeit in den Mittelpunkt. Immer wie­der wer­den Personen aus ihrem Freundeskreis – Künstler:innen, Punks, Schriftsteller:innen, Musiker:innen – bei gemein­sa­men Tätigkeiten, Partys und Veranstaltungen zu ihren Motiven und ste­hen damit stell­ver­tre­tend für eine Zeit, in der freund­schaft­li­che Allianzen und Zusammenkünfte eine poli­ti­sche Dimension mit häu­fig direk­ten Konsequenzen bedeuteten.

Das Aufeinandertreffen von Intimität und staat­li­cher Überwachung wird auch bei Zbigniew Libera ver­han­delt. In sei­nen Fotografien zeigt der Künstler einen höchst widersprüchlichen Moment. Umgeben von meter­ho­hen Mauern und Zäunen sitzt eine Gruppe halb­nack­ter Männer auf einem schma­len Wiesenstreifen in der Sonne. Irritierend an die­ser Szene sind nicht nur die Gefängnisarchitektur und die offen­bar ent­spann­te Stimmung der Männer, son­dern auch die Art der Aufnahmen: leicht unscharf und aus merkwürdigen Perspektiven auf­ge­nom­men wir­ken sie wie unge­len­ke Schnappschüsse. Auch Libera muss­te die­se Bilder heim­lich auf­neh­men. Als Konsequenz sei­ner Flugblattaktionen, mit denen er die Solidarność-Bewegung unterstützte, wur­de er 1982 inhaf­tiert und nach eini­gen Monaten in Einzelhaft in ein Gefängnis für poli­ti­sche Gefangene mit ver­gleichs­wei­se kom­for­ta­blen Haftbedingungen ver­legt. Dort dient der Gefängnishof als Treffpunkt für eine Reihe von Intellektuellen, Oppositionellen und Künstlern, an dem, so scheint es, das Sonnenbaden zu einer Geste poli­ti­schen Widerstands wird.

„ziya­ret, visit” von Aykan Safoğlu ist das Portrait des Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin und der Handlungen der Aktivistin Gülşen Aktaş, die sich hin­ge­bungs­voll der Pflege von Gräbern von Pflegearbeiter:innen, Aktivist:innen und Kulturschaffenden wid­met, die sich dem Einsatz gegen sexu­el­le und ras­sis­ti­sche Diskriminierung ver­schrie­ben hat­ten und für migran­ti­sche, que­e­re und femi­nis­ti­sche Ziele eintraten.

Die in der Prolog-Ausstellung gezeig­ten Künstler:innen und Geschichten tei­len das Verlangen, ihren Blick auf die Gesellschaft und ihre künstlerische Überzeugung zu einer Zeit Ausdruck zu ver­lei­hen, in der ihre Stimmen nicht gehört oder sogar ver­bo­ten wur­den. Aus ver­schie­de­nen Perspektiven beschrei­ben ihre Arbeiten, wie die Kunst die Fähigkeit hat, ande­re Formen der Öffentlichkeit her­zu­stel­len und ein Sensorium für die Bedingungen zu ent­wi­ckeln, unter denen Gruppen eine kri­ti­sche und wider­stän­di­ge Dynamik erhal­ten können.

Herzlichen Dank an die Leihgeber:innen der Ausstellung: Kontakt Sammlung, Wien; Galerie Loock, Berlin; Richard Saltoun, London; Electronic Arts Intermix (EAI), New York sowie an alle Künstler:innen

Radikale Fürsorge

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