Flucht in die Öffentlichkeit
Die Prolog-Ausstellung zum 10. f/stop — Festival für Fotografie Leipzig im Kunstraum D21 versammelt vor allem historische künstlerische Praktiken, welche die Kamera als Mittel zum unterschwelligen Widerstand einsetzen und das fotografische und filmische Bild zur Erzeugung von Gemeinschaften nutzen. Die Arbeiten aus den 1970er Jahren bis heute stellen (Gegen-)öffentlichkeiten her und unterwandern Darstellungsnormen. Sie bilden Referenzpunkte für den f/stop Festival-Parcours, der am 31. Mai 2024 eröffnet wird.
Die Flucht in die Öffentlichkeit verwendeten Gabriele Stötzer und die Künstlerinnengruppe Erfurt in den 1980er Jahren als eine künstlerische Strategie, um der kontinuierlichen „Zersetzung“ kritischer Gemeinschaften durch die Stasi entgegenzutreten. Statt sich nur auf die Arbeit im Verborgenen zu beschränken, wurden Ausstellungen und Veranstaltungen öffentlich beworben und durchgeführt, staatliche Repressionen mussten sich demnach ebenso enttarnen wie die Kunst selbst. Der Zusammenschluss aus Personen ähnlicher Überzeugung war es auch, der aus staatlicher Perspektive als Bedrohung empfunden wurde — eine Bestätigung des Gefühls, dass der Gemeinschaft ein größerer Handlungsspielraum zur Verfügung stand als der Summe von Individuen.
In Anlehnung an die Praxis der Künstlerinnengruppe und Gabriele Stötzer setzt die Ausstellung Momente miteinander in Beziehung, in denen künstlerische Handlungen durch die Kamera ein emanzipatorisches Potential entfalten und eigene Formen von Öffentlichkeit entwickeln. Sozialen Interaktionen und Ausdrücken von Solidarität kommen dabei eine ebenso wichtige Rolle zu wie dem künstlerischen Resultat selbst,
auch wenn sie zumeist außerhalb der Bilder stattfinden.
Mit einem Fokus auf die 1970er und 1980er Jahre rückt „Flucht in die Öffentlichkeit — Prolog zum Festival“ eine Zeit in den Blick, in der Fotografie und Film eng mit aktionistischer Kunst verwoben waren, die versuchte den menschlichen (und kollektiven) Körper in seinem gesellschaftlichen Kontext zu verorten, mit dessen Normierungen zu brechen, und mittels der Kunst Räume für Divergenz zu eröffnen. In diesem Zusammenhang blickt die Ausstellung auf politische Machtverhältnisse und Situationen, in denen diese brüchig werden.
Wie demonstriert man Widerstand innerhalb der Inszenierung einer Demonstration? Ion Grigorescu dokumentierte heimlich eine streng orchestrierte Wahlversammlung während des Ceaușescu-Regimes in Rumänien. Als unfreiwilliger Teilnehmer der Veranstaltung fing er mit seiner auf Hüfthöhe gehaltenen Kamera ein, was aus der Außenperspektive nicht zu sehen war: die Kontrolle der Versammlung durch Geheimdienstler sowie minimale Gesten des Protests, wie umgedrehte Schilder oder der Rückzug unter Bäume, um zu pausieren. Mit der im Verborgenen gehaltenen Kamera blickte Grigorescu hinter die öffentliche Fassade einer politischen Inszenierung und setzte ihre Ambivalenzen ins Bild.
Sanja Iveković vollzieht eine fast gegenläufige Bewegung, indem sie in ihrer berühmten Arbeit „Triangle“ eine politische Inszenierung bewusst stört. In ihrer durch Fotografie und Text dokumentierten Performance widersetzt sie sich der Anweisung an die Bewohner:innen eines Wohnblocks, während der Parade Titos 1979 in Zagreb Fenster geschlossen zu halten und Balkone nicht zu betreten. In dem Iveković andeutet auf dem Balkon zur Lektüre von Tom Bottomores „Elites and Society” zu masturbieren, verstößt die Künstlerin nicht nur gegen die offiziellen Anordnungen, sondern konfrontiert die vorgeschriebene Uniformität mit einer Ausübung körperlicher und intellektueller Selbstbestimmung.
Wenige Jahre später begann die britische Fotografin Jo Spence gemeinsam mit ihrem Partner Terry Dennett an ihrer Serie „Remodelling Photo History” zu arbeiten, in der sie mit den Darstellungsweisen des weiblichen Akts in der Fotografie bricht. Die Motive dieser Serie sind inszeniert und doch näher an der Realität als jene vieler männlicher Fotografen. Mit ihrer Serie „Photo Therapy” wendet sich Spence, in Kollaboration mit Rosy Martin, dem Medium des Familienalbums zu, dessen Rollen- und Bildtypen sie durch psychoanalytisch inspirierte Inszenierungen unterläuft. Auch Martha Rosler greift in ihrer frühen Video arbeiten „Backyard Economy I+II“ gegenderte Rollenbilder auf, in dem sie die Arbeit hinter der Schwelle von Haustüren portraitiert. In bedrohlich ästhetisierter Bildsprache wehen frisch gewaschene Leintücher im Hinterhof als Zeichen reproduktiver Arbeit, die als Grundlage unserer Gesellschaft unbezahlt und unsichtbar bleibt. Mit Super‑8 mm aufgenommen, dem damaligen Amateurfilm-Format schlechthin, produziert sie das Bild einer privaten und alltäglichen Szene, das später zum öffentlichen Symbol wird.
Die Künstlerinnengruppe Erfurt suchte ebenfalls nach Wegen, um unterdrückende und stereotype Rollenbilder zu dekonstruieren – ihre erste gemeinsame Arbeit ist nicht zufällig eine filmische Übersetzung ihrer „Frauenträume”. Jährliche Filmprojekte bilden eine Kontinuität in der Zusammenarbeit der Mitglieder. In ihnen inszenieren sich die Künstlerinnen oft mit aufwändigen und anspielungsreichen Kostümen und nutzen Dächer, Hinterhöfe und die Straße als Hintergrund und Gegenüber ihrer humorvollen und grotesken Szenen. Gabriele Stötzer ist eine treibende Kraft der Gruppe, die von 1984 bis 1994 aktiv war. In ihren Fotografien stellt sie ebenfalls weiblichen Ausdruck und Körperlichkeit in den Mittelpunkt. Immer wieder werden Personen aus ihrem Freundeskreis – Künstler:innen, Punks, Schriftsteller:innen, Musiker:innen – bei gemeinsamen Tätigkeiten, Partys und Veranstaltungen zu ihren Motiven und stehen damit stellvertretend für eine Zeit, in der freundschaftliche Allianzen und Zusammenkünfte eine politische Dimension mit häufig direkten Konsequenzen bedeuteten.
Das Aufeinandertreffen von Intimität und staatlicher Überwachung wird auch bei Zbigniew Libera verhandelt. In seinen Fotografien zeigt der Künstler einen höchst widersprüchlichen Moment. Umgeben von meterhohen Mauern und Zäunen sitzt eine Gruppe halbnackter Männer auf einem schmalen Wiesenstreifen in der Sonne. Irritierend an dieser Szene sind nicht nur die Gefängnisarchitektur und die offenbar entspannte Stimmung der Männer, sondern auch die Art der Aufnahmen: leicht unscharf und aus merkwürdigen Perspektiven aufgenommen wirken sie wie ungelenke Schnappschüsse. Auch Libera musste diese Bilder heimlich aufnehmen. Als Konsequenz seiner Flugblattaktionen, mit denen er die Solidarność-Bewegung unterstützte, wurde er 1982 inhaftiert und nach einigen Monaten in Einzelhaft in ein Gefängnis für politische Gefangene mit vergleichsweise komfortablen Haftbedingungen verlegt. Dort dient der Gefängnishof als Treffpunkt für eine Reihe von Intellektuellen, Oppositionellen und Künstlern, an dem, so scheint es, das Sonnenbaden zu einer Geste politischen Widerstands wird.
„ziyaret, visit” von Aykan Safoğlu ist das Portrait des Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin und der Handlungen der Aktivistin Gülşen Aktaş, die sich hingebungsvoll der Pflege von Gräbern von Pflegearbeiter:innen, Aktivist:innen und Kulturschaffenden widmet, die sich dem Einsatz gegen sexuelle und rassistische Diskriminierung verschrieben hatten und für migrantische, queere und feministische Ziele eintraten.
Die in der Prolog-Ausstellung gezeigten Künstler:innen und Geschichten teilen das Verlangen, ihren Blick auf die Gesellschaft und ihre künstlerische Überzeugung zu einer Zeit Ausdruck zu verleihen, in der ihre Stimmen nicht gehört oder sogar verboten wurden. Aus verschiedenen Perspektiven beschreiben ihre Arbeiten, wie die Kunst die Fähigkeit hat, andere Formen der Öffentlichkeit herzustellen und ein Sensorium für die Bedingungen zu entwickeln, unter denen Gruppen eine kritische und widerständige Dynamik erhalten können.
Herzlichen Dank an die Leihgeber:innen der Ausstellung: Kontakt Sammlung, Wien; Galerie Loock, Berlin; Richard Saltoun, London; Electronic Arts Intermix (EAI), New York sowie an alle Künstler:innen